Die
Walkmühle bei Groß Reetz
von Jürgen Lux
Knapp 2 km östlich der kleinen hinterpommerschen Stadt Pollnow an einem kleinen Seitenflüßchen der Grabow, dem Reetzer Mühlbach gelegen, auf altem Lettower Gebiet, im äußersten Westen des Kreises Rummelsburg, stand die bis Kriegsende noch voll funktionsfähige Anlage der Walkmühle Groß Reetz, gleichzeitig Erholungsstätte und Ausflugslokal für die Einwohner der Umgebung. Es war die letzte Mühle dieser Art in weitem Umkreis, in welcher selbstgewobene Tuche durch das Walken ihre Festigkeit, eine "geschlossene Decke", erlangten. In ihrer Einzigartigkeit wurde die Mühle im Jahre 1942 unter Denkmalschutz gestellt. Abgeschieden, inmitten von Buchenwald gelegen, bot sie einen der idyllischsten Plätze der hinterpommerschen Landschaft.
Über ein halbes Jahrhundert drehte sich das Mühlrad im kühlen Grunde des Reetzer Bachs unter der Aufsicht der Walkermeister Carl Bleich (1854-1932) und seines Sohnes Friedrich (1884-1945), bevor es dann für immer seine Arbeit einstellte. Die Bleichs entstammten einem alten Walker-Geschlecht. Wie Rummelsburger Stammrollen (Bürgerlisten) zu entnehmen war, übten schon Friedrich Wilhelm Bleich (1820-1872), dessen Bruder Carl Friedrich (geb. 1830) und deren Vater Erdmann (1799-1862) das Handwerk in der Tuchmacherstadt Rummelsburg aus. Mit deren Großvater Martin "Bleech", Walkermeister in Hammerstein, Kreis Schlochau (Westpreußen) verlieren sich die Spuren der traditionsreichen Familie, in der fünf Generationen das Walkerhandwerk ausgeübt haben.
Carl Bleich, der in Rummelsberg vom Vater das Handwerk erlernte, pachtete nach seiner Heirat mit der Bäckerstochter Auguste Barkow aus Labes im Jahre 1891 die Reetzer Walkmühle für 400 Goldmark jährlich von Hermann von Lettow, der 1885 Groß Reetz übernommen hatte, welches damals neben zwei herrschaftlichen, noch bewohnbaren Höfen auch die Wassermühle besaß. Das Jahr der Erbauung der Mühle ist schriftlich nicht überliefert, es werden die Jahre 1795 und 1806 genannt. Sicher ist deren Existenz aber im Jahre 1839 nachweisbar, wo sie auf der durch eine Neuaufnahme revidierten Preußischen Generalstabskarte 1:25.000 eingezeichnet zu finden ist. Friedrich Bleich erwarb am 1. Oktober 1936 die Mühle mit rund 80 Morgen Land käuflich vom Vorbesitzer von Lettow. In den Jahren 1940 und 1941 wurden umfangreiche Renovierungsarbeiten durchgeführt. Durch einen glücklichen Umstand sind die schriftlichen Unterlagen darüber im Vorpommerschen Landesarchiv Greifswald erhalten geblieben. Das eindrucksvolle hölzerne Mühlrad wurde vom Walkermeister Bleich selbst neu gezimmert. Strenge Auflagen des Landesdenkmalamtes waren dabei zu erfüllen. Wenige Jahre vor Kriegsende entstand so ein vorbildlich restauriertes technisches und bauliches Kulturdenkmal, die letzte und einzige damals im Pommern noch in Gang befindliche Walkmühle in ihrer ursprünglichen Form.
In den ersten Jahren unseres Jahrhunderts gab es im Schlawer und im Rummelsburger Land noch einige alte selbständige Tuchmacher. Mit der neuen Zeit und der fortschreitenden Technisierung übernahm jedoch eine leistungsfähige Industrie das alte Handwerk und verdrängte mehr und mehr die alten Webstühle. Die Tuchmacherinnungen besaßen etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Ostpommern Spinnereien und andere Betriebseinrichtungen wie Tuchschereien, Färbereien und auch Walkmühlen gemeinsam. Diese Walkmühlen, in früheren Jahrhunderten wichtige Pfeiler des alten Handwerkes, verloren durch moderne Fabrikationsmethoden fast vollständig ihre ursprüngliche Bedeutung.
Der Reetzer Mühlbach wurde durch ein Wehr gestaut und von der Staustelle ein sogenannter "Obergraben" entlang des Berghanges gezogen. Unter Ausnutzung des naturgegebenen Gefälles wurde also durch Umleitung des Bachbettes des Reetzer Mühlbachs und nach Erstellung einer Staustufe der Lauf des Wassers oberhalb des Mühlrades geregelt. Hinter dem Abhang des Obergrabens befand sich eine Einlaufschütze. Bei zu hohem Wasserstand, z. B. bei Schneeschmelze und nach außergewöhnlichen Regenfällen, beim Entsanden des Obergrabens sowie vor einer notwendigen Reparatur konnte durch Öffnung der Schütze das Mühlwasser in das natürliche Bachbett abgeleitet werden.
Die Stauanlage vor dem Wasserrad selbst hatte drei Schützen, Vorrichtungen, mit denen der Wasserstand reguliert werden konnte. Die Wasserstauung wurde über einen Wasserüberfall (Überfallwehr) im sog. "Freifluter" und über die Stellschütze für das Wasserrad (Schutzwehr) erreicht.
Bei der Anlage teilte sich das Wasser also in zwei Wege: Ein Teil strömte durch das Wasserrad, während der überschüssige Teil an diesem über den Freifluter vorbeiströmte.
Das Schutzwehr fing auch größere Gegenstände wie Baumäste, Planken und Eisschollen ab, die sonst mit dem reißenden Wasser ins Radwerk hätten gelangen können.
Bei der Walkmühle bewirkte die Drehung des Rades gleichzeitig die Drehung einer mit ihm starr verbundenen hölzernen Welle, eines geraden Eichenstamms, der am äußeren Ende mit einem großen Eisenzapfen, der in einer Eisenlagerschale ruhte, versehen war. Dieser sog. "Wellbaum" war mit "Fingern", d. h. Holzzapfen bestückt. Der Holzzapfen griff an einem Vorsprung des Hammers, hob den Hammer und ließ ihn bei der weiteren Drehung der Welle wieder fallen. Die Schlagkraft des hölzernen Hammers wurde zur Bearbeitung, dem Walken der Tuche, benötigt. Das Walken erfolgte in einer hölzernen "Kumm", in der zwei Hämmer wechselseitig die mit Seifenlauge aus gehobelter Kernseife getränkten Stoffe bearbeiteten. Die gesamte Anlage bestand aus drei Hammerwerken. jedes konnte einzeln bedient, d. h. an- und abgestellt werden. Die Hämmer, welche über einen langen hölzernen Arm jeweils unterhalb der Decke aufgehängt waren, hatten vorne eine Nase mit drei Zähnen, eine Verlängerung an der Arbeitsseite und schlugen in die vordere Hälfte des Kastens. Die Bearbeitung durch die Hämmer ergab eine Verfilzung des Stoffes, eine Verdichtung, die damit eine größere Gleichmäßigkeit und bessere Wetterbeständigkeit erzeugte. Das für das Walken benötigte Wasser wurde durch ein Schöpfwerk in die Mühle gebracht, das waren Kästen am Mühlrad, die bei der Drehung das Wasser aus dem Bach in einen Trog schöpften. Von dort floß es in einer hölzernen Rinne in die Mühle und über die Walkkästen in einen Bottich mit Überlauf. So konnte bei Bedarf durch Öffnung des hölzernen Verschlusses das Wasser in die Kästen laufen und der gewalkte Stoff mit dem klaren Wasser des Mühlbachs gespült werden.
Hergestellt wurden die meist einfachen Lodenstoffe (Bauerntuche) oft noch aus selbst gesponnenem Wollgarn. Sie kamen früher von selbständigen Tuchmachern der Umgebung und zuletzt von Leuten, die die Kunst des Spinnens und Webens noch auszuüben wußten. Die gewalkten bis zu 40 Meter langen und 1 bis 1,20 Meter breiten Stoffe wurden anschließend auf einer nahegelegenen Halbinsel des Mühlbachs, der sog. "Bleiche" zum Trocknen aufgehängte. Mit den so bearbeiteten Tuchen fuhr Carl Bleich am Anfang des Jahrhunderts einmal im Monat mit Pferdegespann und Leiterwagen nach Schlawe. Nach dem Bau der Kleinbahn Pollnow - Schlawe wurde das Tuch, in Säcken verpackt, als Fracht verschickt, um in Schlawe weiterverarbeitet zu werden. In den 20er und 30er Jahren schließlich brachte Friedrich Bleich das zusammengelegte und aufgerollte Tuch zur Weiterverarbeitung nach Pollnow. Bei Schütte wurde es gefärbt und gepreßt: Einer Lage Tuch folgte jeweils ein heißes Blech, bis mehrere Schichten aufeinander lagen. Der Vorgang des Pressens verlieh dem Tuch einen besonderen Glanz und die erforderliche Glättung. Meist wurden die fertigen Tuche dann an den Kunden zurückgeschickt oder abgeholt.
Die Groß Reetzer Walkmühle, Wirtshaus und Ausflugsort im romantischen Tal des Mühlbachs, wurde besonders im Sommer von zahlreichen Gästen besucht, die sich dort unter schattigen Buchenkronen von des Lebens Mühe und Arbeit bei fröhlichen Festen erholten. Neben der Walkerei und der Landwirtschaft widmete sich die Pächter- und spätere Besitzerfamilie Bleich mit besonderem Engagement der Errichtung einer Gast- und Schankwirtschaft mit Tanzsaal, Kegelbahn und Schießstand. Auf der vom Bach umrahmten Halbinsel vor der Mühle waren Tische und Bänke aufgestellt. Hier konnten sich die Ausflügler mit Kaffee und Kuchen, frischer Milch, echtem Landbrot, selbstgefertigter Butter und Schinken sowie Bier und Korn stärken. Eine Atmosphäre der Ruhe, Entspannung und des Kraftschöpfens erwartete den Wanderer. Bei Dunkelheit oder regnerischem Wetter zog man sich in die gemütliche Gaststube zurück. Einmal im Jahr im Juli war Rosenfest. Ursprünglich zur Zeit Friedrich Wilhelms III. als Feier des Geburtstages des Königs am 3. August eingerichtet, wurde es nach dessen Tod in die Zeit der Rosenblüte verlegt. Bereits 1876 hatte der damalige Rektor Haase in der Pollnower Schulchronik das Rosenfest an der Walkmühle beschrieben. Während des Schulfestes wetteiferten die jungen miteinander im "Vogelabwerfen", die Mädchen im "Taubenstechen". Imposant war der große Fackelzug mit Musik zurück nach Pollnow bei Einbruch der Dämmerung, er endete regelmäßig mit einer Ansprache des Rektors am Kirchplatz vor der Pollnower Volksschule und mit dem Choral "Nun danket alle Gott".
Nach dem Einmarsch der sowjetischen Roten Armee am 4. März 1945 in Groß Reetz wurde Friedrich Bleich, der letzte Walkmüller, zusammen mit vielen anderen Landsleuten verschleppt und ist seither verschollen. Die polnischen Behörden richteten im Gebäude der Walkmühle zunächst eine Forstverwaltung ein, die aber schon nach wenigen Jahren ihre Funktion verlor. Vermutlich bald nach 1955 wurde die gesamte Mühlenanlage demontiert, die neuwertigen Ziegel- und Backsteine mangels Baumaterials anderenorts wiederverwendet und der Rest dem Verfall preisgegeben. Heute lebt die Groß Reetzer Walkmühle mit ihren einstigen Bewohnern und Besuchern in der Erinnerung vieler weiter. Die Tradition regelmäßiger Treffen dort bei Kaffee und Kuchen (auf dem Spielplatz oberhalb der Mühle) konnte seit 1994 wenigstens in jährlichen Abständen bis heute fortgesetzt werden. Zuletzt feierten ein knappes Dutzend Pollnower nach einer Wanderung über den sogenannten Wiesenweg von Pollnow aus hier ein Wiedersehen. Jetziger Besitzer des Walkmühlen-Areals im Tal des Reetzer Mühlbachs ist die polnische staatliche Forstverwaltung. Ob es eines Tages gelingt, dieses einzigartige pommersche Kulturdenkmal erneut zum Leben zu erwecken, weiß zur Zeit niemand. Aber es gibt bereits seitens der Stadt Pollnow Pläne, das Areal in Gemeindeeigentum zu überführen. Das wäre die Voraussetzung für einen späteren Wiederaufbau der Mühle. Wichtigste Aufgabe bis dahin aber ist es, die Geschichte der Reetzer Walkmühle vor dem Vergessen zu bewahren. Auch dieser Artikel soll dazu beitragen.
Erstellt von Jürgen Lux. Letztes update: 28.04.2013